N E W S L E T T E R

Hoi Kin Fung
Polytechnic University - The Remaining Specter

Der Campus der Polytechnischen Universität Hongkong wurde im Herbst 2019 für 13 Tage zum Schauplatz erbitterter Kämpfe. Auslöser für die Proteste war ein geplantes Gesetz der Hongkonger Regierung, das die Auslieferung von Verdächtigen an China erleichtern sollte. Mehrere Hundert Demonstrierende verschanzten sich auf dem Gelände der größten staatlichen Universität. Die Polizei umzingelte das Gebiet und schoss mit Tränengas und scharfer Munition auf die Aktivist*innen, die sich mit Molotowcocktails sowie Pfeil und Bogen wehrten. Die Regierung drohte, die Besatzer*innen strafrechtlich als Terrorist*innen zu verfolgen. Panik und Wut machten sich breit: Manche seilten sich von der auf Höhe des fünften Stockwerks befindlichen Brücke ab oder flohen durch unterirdische Kanäle, andere versteckten sich im Maschinenraum der Klimaanlage oder ergaben sich der Polizei. 400 Aktivist*innen wurden festgenommen, 200 weitere waren unter 18 Jahre alt und müssen später mit einer Strafanzeige rechnen. Der Gesetzentwurf wurde zurückgezogen. Doch bei den jungen Menschen blieb das Gefühl, ihre Hoffnung und ihr Vertrauen in die Gesellschaft verloren zu haben.

  • Aktivismus
  • China
  • Hongkong
  • Krise
  • Protest
  • Subversion
3 Fragen
1. Der Türöffner: Kannst du einen prägenden Moment in deiner Karriere als Bildjournalist beschreiben?

Ich begann meine Laufbahn als Bürgerjournalist bzw. freier Journalist während der Regenschirm-Bewegung in Hongkong, die man auch als „Occupy Central“ kennt. Als ich zu Hause in den Fernsehnachrichten sah, wie die Polizei Tränengas gegen die Demonstrant*innen – hauptsächlich Student*innen – einsetzte, hatte ich das Gefühl, etwas tun zu müssen. Ich schnappte mir meine Kamera und begann für die gesamte Bewegung zu fotografieren. Danach fing ich bei einer Tageszeitung in Hongkong als Fotojournalist an.

2. Der entscheidende Moment: Wann ist dir dein Thema das erste Mal begegnet und wieso hast du dich dazu entschieden, es fotografisch zu bearbeiten?

Die Polytechnische Universität in Hongkong wurde zwei Wochen von der Polizei belagert. Tausende junger Demonstrant*innen waren auf dem Campus gefangen, und die Polizei erklärte, dass sie alle wegen Unruhestiftung angeklagt würden. Hunderte von ihnen wurden verletzt. Einige versuchten durch Abwasserkanäle zu fliehen oder sich von einer Brücke abzuseilen. Der ganze Campus war ein einziges schreckliches Chaos und erinnerte an Kriegsruinen. Es war schwierig, die verbliebenen Demonstrant*innen zu finden, weil sie sich in dunklen, kleinen und entlegenen Räumen versteckt und eingeschlossen hatten. Deswegen habe ich versucht, Fotos der Campus-Landschaft zu machen. Ich denke, Landschaften können auch Geschichten erzählen. Sie sind wie Porträts von Menschen. Sie sehen anders aus, aber man kann durch die Einzelheiten in einer Landschaft hindurchschauen, wie man bei einem Porträt durch die Augen einer Person hindurchsieht. Dann entdeckt man etwas, das sich dahinter befindet. Ich glaube, man erkennt auch den „Geist“ hinter den Landschaften, die ich fotografiert habe.

3. Die Zukunft: Wie kann der visuelle Journalismus der Zukunft aussehen?

In der Vergangenheit war die „objektive Dokumentarfotografie“ der Haupttrend im Bildjournalismus. Ich glaube aber, dass die „subjektive Dokumentarfotografie“ in Zukunft wahrscheinlich eher ein Trend sein wird. Die Vorstellungen und Perspektiven eines Fotografen oder einer Fotografin werden an Bedeutung zunehmen. Die Grenzen zwischen Dokumentarfotografie und zeitgenössischer Kunstfotografie werden verschmelzen und verschiedene Arten des Storytellings akzeptiert.

Interview
Was waren deine Erfahrungen hinsichtlich der allgemeinen Einschränkungen und Begrenzung der Pressefreiheit, während du die Proteste fotografiert hast?

Polizeigewalt gegen Journalist*innen gab es in Hongkong schon immer. Journalist*innen sind der Polizei ein Dorn im Auge. Ein indonesischer Journalist erblindete auf einem Auge, weil die Polizei während der Proteste in Hongkong Gummigeschosse einsetzte und eines davon ihn traf. Die Polizei errichtet häufig Blockaden an den Demonstrationsorten, sodass die Journalist*innen nicht ihrer Arbeit nachgehen können. Ich erinnere mich, dass am 16. November letzten Jahres, dem Tag, an dem die Polizei begann, die Polytechnische Universität zu belagern, die Polizei verkündete, dass alle, die in der Universität bleiben würden, wegen Unruhestiftung angeklagt würden, auch die Journalist*innen. Sie bedrohten uns alle auf dem Campus mit geladenen Waffen. Wir Reporter*innen diskutierten, ob wir auf dem Dach der Polytechnischen Universität bleiben sollten, und fast alle entschieden wir uns dafür. Wir hatten das Gefühl, dass es zu unserer Verantwortung als Journalist*innen gehöre, auf dem Campus zu bleiben.

Aufgrund der gegenwärtigen Corona-Pandemie befindet sich die ganze Welt in einem Krisenmodus. Inwieweit schwächt ein solcher Ausnahmezustand deiner Meinung nach die Proteste und die demokratischen Bewegungen, insbesondere in deinem Heimatland?

Am Anfang der Pandemie gab es in Hongkong viele Demonstrationen, auf denen die Menschen forderten, die Grenze zu Festlandchina zu schließen. Die Demo der Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen war schließlich ausschlaggebend dafür, dass die Regierung die Grenze schloss. Die Polizei verhaftete jedoch kürzlich Demonstrant*innen unter Anwendung des Notstandsgesetzes über verbotene Gruppenansammlungen und untersagte alle Proteste, einschließlich der Kerzenlicht-Mahnwache für das Massaker vom 4. Juni, die jedes Jahr in Hongkong organisiert wird.

Wie ist die derzeitige Situation? Wie blickst du in die Zukunft?

Die demokratischen Demonstrationen in Hongkong wurden nie wirklich abgebrochen, und die Proteste laufen bis heute. Obwohl der Weg vor uns unsicher ist, nimmt die chinesische Unterdrückung zu. Ich möchte mit einem Satz aus der Bibel, aus einem Psalm Davids, schließen und Mut machen: „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir; dein Stecken und Stab trösten mich.“

Found in Research

Ein Interview mit Hoi Kin Fung und Kwan Ling Mok im Rahmen der Fotoausstellung „Stand with Hong Kong Journalists“ im Wiener Kunstraum Nestroyhof (23.01. – 4.02.2020), geführt von Anna Sawerthal, 30. Januar 2020, Der Standard.

Erfahre mehr über die Proteste in Hongkong in dem Artikel “From an extradition bill to a political crisis: A guide to the Hong Kong protests” von Jessie Yeung, CNN, 20.12.2019.

Oder in diesem CNN Video über “The evolution of the Hong Kong protests”

 

© für alle Fotos die Fotografinnen und Fotografen
© für alle Videos Lumix Festival Hannover, wenn nicht anders angegeben.

*Hongkong
Hoi Kin Fung arbeitet als Fotojournalist für die Hongkonger Lokalzeitung MingPao. Seit dem Sommer 2019 dokumentierte er ausgiebig die eskalierenden Proteste gegen das Auslieferungsgesetz. Gemeinsam mit zwölf weiteren Fotojournalist*innen aus Hongkong zeigt er 2020 die Ausstellung „Stand With Hong Kong Journalists“ in mehreren europäischen Städten. 2019 erhielt er beim Andrei Stein International Press Photo Contest eine lobende Erwähnung.

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