N E W S L E T T E R

Santanu Dey
The Lost Legacy

Anfang des 17. Jahrhunderts wurden die Briten durch die Britische Ostindien-Kompanie Kolonialmacht in Indien und veränderten die gesellschaftliche Ordnung. Sie etablierten auch im heutigen Bangladesch das sogenannte Zamindar-System, das einer Gruppe indischer Großgrundbesitzer zu Privilegien und Reichtum verhalf. Mit dem Ende der Kolonialherrschaft am 15. August 1947 änderte sich die Situation für die Aristokratenfamilien der Zamindar. Santanu Deys Fotoprojekt blickt auf die Nachkommen der Zamindar, deren Familien ein wichtiger Teil der Wirtschafts- und Kulturgeschichte von Kalkutta und Bangladesch sind. Ihre heutigen Nachkommen erzählen von der Zeit der Entkolonialisierung.

  • Diskriminierung
  • Erinnerung
  • Familie
  • Indien
  • Kolonialismus
3 Fragen
1. Der Türöffner: Kannst du einen entscheidenden Moment in deiner Karriere als Bildjournalist beschreiben?

Für mich war der prägendste Moment, als ich für ein Postgraduierten-Studium für Fotografie am Counterfoto Center for Visual Arts in Dhaka, Bangladesch, ausgewählt wurde. Während meines Aufenthaltes in Dhaka traf ich viele Mentor*innen, Fotograf*innen und Künstler*innen, von denen ich eine Menge lernen konnte. Durch meine Aufträge muss ich verschiedene Orte besuchen, und manchmal kommt es vor, dass ich keine Vorstellung von diesem Ort habe. Aber ich glaube, es ist tatsächlich ein Prozess, unter solchen Bedingungen meine Aufträge zu bewältigen und fertigzustellen. Es ist eine Reise, auf der ich tatsächlich beginne, Kunst und Fotografie zu verbinden und zu verstehen. Der ganze Prozess hilft mir, meine eigene Sprache zu entwickeln.

2. Der entscheidende Moment: Wann ist dir dein Thema das erste Mal begegnet und wieso hast du dich dazu entschieden, es fotografisch zu bearbeiten?

Für mich ist Fotografie ein künstlerisches Medium, das mir hilft, eine Sprache zu entwickeln, mit der ich meine Gefühle ausdrücken kann. Als Visual Storyteller habe ich meine persönlichen Erfahrungen mit aktuellen sozialen Problemen aus meiner persönlichen Perspektive erzählt. Ich denke, ein Projekt kann durch Recherchen und fortlaufende Prozesse seine eigene Sprache entwickeln. Als Dokumentarfotograf fühle ich mich einem Thema sehr verbunden, das große Auswirkungen auf meine Kindheit hatte. Die Abspaltung [Pakistans von Indien; Anm. d. Red.] ist ein wichtiger Teil meines Lebens, also entschied ich mich für dieses Langzeitprojekt. Ich plane, eine Trilogie über die Auswirkungen der Abspaltung zu entwickeln. „Lost Legacy“ ist der erste Teil dieser Trilogie. Diese ganze Arbeit hat etwas sehr Persönliches, genauso wie es eine große Dokumentation der kulturellen und gesellschaftlichen Bedingungen in Indien nach der Abspaltung ist.

3. Die Zukunft: Wie kann der visuelle Journalismus der Zukunft aussehen?

Wir wissen, dass Fotografie eine Verbindung aus Kunst und Wissenschaft ist. Kunst entsteht durch Künstler*innen, die sich ihre eigene Orientierung schaffen, aber die Wissenschaft bietet die Technologie, die die Fotografie auf eine neue Ebene hebt. Das Konzept des Bildjournalismus ändert sich von Tag zu Tag. Technische Entwicklungen sind heutzutage sehr bestimmende Faktoren, und das wird in naher Zukunft sogar noch zunehmen. Ein Beispiel ist die Handyfotografie, die aufgrund ihrer einfachen Handhabbarkeit im Bildjournalismus häufig genutzt wird. Das Video ist im Bildjournalismus ebenfalls von Bedeutung, weil die Fotografie nur ein starres Medium ist, das Video den Betrachtenden aber Ton und Bild bietet. Die Plattform des Bildjournalismus ändert sich ebenfalls. Wir kennen den Bürger*innenjournalismus auf Facebook, der sich mit der Community entwickelt. So können wir einfach überall darauf zugreifen. Ich denke, wir können nicht vorhersagen, wie die Zukunft des Bildjournalismus tatsächlich aussehen wird, aber dies sind alles Möglichkeiten.

Weiterführende Fragen
Wann hast du dich zu dieser Geschichte entschlossen und warum wolltest du sie erzählen?

Als Dokumentarfotograf fühle ich mich einem Thema sehr verbunden, das große Auswirkungen auf meine Kindheit hatte. Von meinem Vater und Großvater habe ich viele Geschichten darüber gehört, dass die Heimat meiner Vorfahren Faridpur in Bangladesch sei. Aber aufgrund der Teilung von Indien und Pakistan 1947 waren wir gezwungen, unsere Heimat zu verlassen. Wir kamen nach Kalkutta und begannen dort ein neues Leben. Mir fehlte die Erinnerung an das Haus meiner Vorfahren. Aber Kalkutta ist meine Heimat. Die Stadt, in der ich geboren wurde und in der ich lebe, hat mich sehr beeinflusst, da die Kunst in all ihren Formen das Wesen von Kalkutta ist. Das sind die sehr traumatischen Erfahrungen, von denen ich immer gehört habe und mit denen ich aufwuchs. Die Abspaltung ist ein wichtiger Teil meines Lebens, also entschied ich mich für dieses Langzeitprojekt.

Wo hast du die Personen, die du porträtiert hast, gefunden und wie hast du sie kontaktiert?

Ich denke, für einen Dokumentarfotografen ist die Recherche sehr wichtig, um ein Projekt vernünftig durchzuführen. Wenn ich mich für ein Projekt entscheide, recherchiere ich sehr viel theoretisch und praktisch. Das hilft mir, die Subjektivität und die Objektivität meiner Arbeit zu verstehen. Als ich mich dann für dieses Projekt entschieden habe, habe ich viele Bücher über die Entkolonialisierung von Bengalen und die Zamindars gefunden, ebenso wie viele Archivlisten über Zamindars, die früheren Eliten. Das half mir, ein soziales Mapping dieser Zamindars zu erstellen. Dann sprach ich persönlich mit ihnen, um ihnen eine Vorstellung davon zu geben, woran genau ich arbeiten wollte, und um zu erfahren, ob sie Interesse hätten. Erst danach fing ich an zu fotografieren. In diesem Langzeitprojekt ist also nach den Recherchen und Anfragen um eine Genehmigung das Fotografieren eher der letzte Schritt.

Handelt es sich bei diesem Thema um eine laufende historische Diskussion, oder sind die Geschichten hinter diesen Menschen und ihren Familien in Gefahr, verloren zu gehen?

Ich denke, die Diskussion darüber, wie sich das Zamindar-System während der Kolonialzeit entwickelt hat, ist unter Historiker*innen noch nicht abgeschlossen. Wie groß war ihre Macht und wie hoch ihr Ansehen zu der Zeit? Sie bildeten eine Brücke zwischen der Kolonialmacht und der Gesellschaft. Die Zamindars halfen im Grunde genommen der britischen Monarchie, in Bengalen zu herrschen, und erlebten dadurch einen bemerkenswerten Aufstieg. Welche Auswirkungen hatte dann die Entkolonialisierung auf sie? Sie verloren ihre Macht und ihr Ansehen. Die Exklusivität dieser Familien besteht nicht mehr. Wie hat sich die Abspaltung auf sie ausgewirkt? Wie alle anderen Inder*innen führen sie ein normales Leben als Mitglieder der Gesellschaft und sind in unterschiedlichen Berufen tätig. Jede Familie hat ihre eigenen Geschichten und ihren Verlust. In einem größeren Zusammenhang ist diese Arbeit eine niemals endende historische Diskussion über die früheren Oberschicht-Eliten in Bengalen.

Wie ist heute die allgemeine Meinung über diese Menschen? Gibt es ein öffentliches Interesse an ihnen und ihrem Erbe?

Einst waren die Zamindars sehr mächtig. Sie konnten alles tun, was sie wollten, da sie während der Kolonialzeit die Repräsentant*innen der Kolonialmacht waren. Heute jedoch haben sie im Zuge der Entkolonialisierung ihre Macht verloren. Früher mussten gewöhnliche Leute, die einen Zamindar-Palast betreten wollten, eine Menge Restriktionen und Regeln beachten. Heute sieht es völlig anders aus. Auf dem größten Fest in Bengalen, Durga-Puja, durften früher Angehörige der Unterschicht Thakurdalan (Ort des Gottesdienstes) nicht betreten. Diese Regeln sind mit der Entkolonialisierung ebenso wie die Angst und das Ansehen verschwunden. Dennoch stellt das Erbe für viele Menschen immer noch einen Wert dar. Sie besuchen die Zamindar-Paläste nicht, um diese Familien zu besuchen, sondern als historische Orte. Ich denke, dass durch die Abspaltung und die Entkolonialisierung ein enormer sozialer Wandel erfolgt ist. Diese Familien sind die lebenden Archive der Kolonialzeit und der soziopolitischen Landschaft von Bengalen.

Wie war deine persönliche Meinung über diese Zeit und die Personen, mit denen du zu tun hattest? Hat sich während der Arbeit mit ihnen etwas verändert?

Als ich Angehörige dieser Familien zum ersten Mal traf, zeigte ich ihnen einen Überblick über meine Arbeit. Die meisten Familien nahmen mich sehr freundlich auf und kooperierten. Einige frühere Elitefamilien haben jedoch ihre Arroganz nicht abgelegt und sind nicht an einem Archiv interessiert. Das ist allerdings nur ein kleiner Prozentsatz. Das Wichtigste ist tatsächlich, dass sie überall ihre Stellung verloren haben. Die Aristokratie ist vom Aussterben bedroht.
Ich haben ihnen nie versprochen, dass meine Arbeit ihnen in irgendeiner Weise helfen würde. Ich möchte einfach die ganze Inszenierung der Zamindars aus der Perspektive der Entkolonialisierung archivieren. Meine Hauptintention besteht darin, herauszuarbeiten, wie sich die Abspaltung auf die einzelnen gesellschaftlichen Levels auswirkt, egal ob Ober-, Mittel- oder Unterschicht. Sie glauben auch, dass es nach Abschluss dieser Arbeit eine große Sammlung über Zamindars aus Bengalen geben wird, als Archiv für zukünftige Generationen.

Beitrag zusammengestellt von Tom Wesse

© für alle Fotos die Fotografinnen und Fotografen
© für alle Videos Lumix Festival Hannover, wenn nicht anders angegeben.

*7. Juli 1991 in Indien
Anstatt seine Ausbildung zum Finanzbuchhalter fortzusetzen, nutze Santana Dey die Chance, Fotografie am Counterfoto Center for Visual Arts in Dhaka, Bangladesch, zu studieren. Seine sozialdokumentarischen Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet und international ausgestellt, zuletzt auf dem Jakarta International Photo Festival 2019 und dem Indian Photography Festival in Hyderabad. Dey war Preisträger beim Andrei Stenin International Press Photo Contest 2019.

www.shantonudey.wordpress.com

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