N E W S L E T T E R

Eric Tsang
Language of the Unheard

Im Juni 2019 begann in Hongkong eine Reihe von Massenprotesten gegen Pläne, Gefangene an China ausliefern zu können. Die Sorge, dass das Modell „Ein Land, zwei Systeme“ auf diese Weise ausgehöhlt würde, erfasste weite Teile der Bevölkerung. 1984 hatten die Volksrepublik China und Großbritannien das Abkommen unterzeichnet, das die Souveränität Hongkongs ab dem 1. Juli 1997 regelte. Die jüngere Generation, aufgewachsen in einer vom Ultrakapitalismus geprägten Kolonie, lebte nun in einer sozialistischen Stadt chinesischer Prägung. Die Proteste haben nun eine neue Seite dieser Stadt aufgedeckt. Schon immer hatten die Hongkonger*innen eine gespaltene Identität, und diese Wahrnehmung deckte sich mit der Lage der Metropole: zwischen Ost und West, Glas und Gras, Schatten und Reflexionen, Gehörten und Ungehörten.

3 Fragen
1. Der Türöffner: Kannst du einen prägenden Moment in deiner Karriere als Bildjournalist beschreiben?

Den prägenden Moment gab es nicht, als ich an einer großen Geschichte arbeitete, sondern als ich aufgrund eines Unfalls nicht arbeiten konnte. Ich hatte mir beim Basketball das Knie gebrochen, und nach der Operation konnte ich drei Monate nicht gehen. Ich musste meine Laufbahn als Fotojournalist unterbrechen und zu Hause bleiben, um mich zu erholen. Es glich ziemlich dem, was wir gerade während der COVID-19-Pandemie erleben. Als Journalist hatte ich unterschiedliche Menschen getroffen und wurde von ihnen in ihr Leben eingeladen, habe ihre Geschichten gehört. Ich konnte jedoch in dieser Situation außer meinem Arzt und meinem Therapeuten niemanden treffen. Da ich nichts zu tun hatte, begann ich, mein gebrochenes Bein zu fotografieren, um zu dokumentieren, wie es sich erholte, wann ich wieder aufstehen und gehen konnte. Ich habe meiner eigenen Geschichte zugehört und versucht, meine Erholung zu visualisieren. In dem Moment erkannte ich, dass ich ein Bildjournalist bin. Ich hatte das Gefühl, was immer mir auch passierte, in meinem Kopf ist nur: Ich muss an einer Bildgeschichte arbeiten.

2. Der entscheidende Moment: Wann bist du das erste Mal auf dein Thema gestoßen, und warum wolltest du es mithilfe der Fotografie behandeln?

Das Thema begegnete mir ganz natürlich, als die breiten Proteste in meiner Heimatstadt Hongkong begannen. Es hatte seit 2014 keine andere gesellschaftliche Bewegung in dem Ausmaß gegeben, und seit den Unruhen 1967 war keine so gewaltsam gewesen. Die Option, diese Geschichte nicht zu bearbeiten, gab es für einen Hongkonger einfach nicht. Der Titel „Language of the Unheard“ ist eine Leihgabe von Martin Luther King jr., der 1968 in einem Interview sagte, dass ein Aufstand die Sprache der Ungehörten sei. Zu Bürgerunruhen kommt es, wenn die Behörden nicht mehr auf die Menschen hören und sich nicht mehr um ihre Bedürfnisse kümmern. Ich habe eine starke Beziehung zu den Ungehörten dieser Stadt. Ich wäre niemals auf die Idee gekommen, für diese Geschichte nicht die Fotografie als Ausdrucksmittel zu benutzen, da ich mich selbst besser visuell als verbal ausdrücken kann, in einer Distanz, in der ich mich wohlfühle. Das ist die Sprache, mit der ich über meinesgleichen sprechen kann, über ihre jahrzehntelange Geschichte, während sie ihre Sprache benutzen, um mit denen zu sprechen, die ihnen nicht zuhören.

3. Die Zukunft: Wie könnte der Bildjournalismus der Zukunft aussehen?

Ich weiß nicht, wie der Bildjournalismus der Zukunft aussehen wird. Interessanterweise ist der Bildjournalist einer der wenigen Berufe, in denen Profis und Amateure wohl dasselbe Equipment nutzen: sei es eine Canon 1Dx Mk2 (ein Flaggschiff-Modell), eine Fuji XT-3 (ein Prosumer-APSC-Modell) oder eine Gopro Action Camera (eine besondere Art von Kamera). Die wachsende Beliebtheit ziviler Reporter*innen oder Influencer*innen auf vielen Social-Media-Plattformen mit Computeralgorithmen im Hintergrund könnte die zweite mechanische Revolution seit der Erfindung der Fotografie sein: die Erfindung der sehenden Maschine. Früher haben die Menschen darüber diskutiert, was die Erfindung der Fotografie für die Malerei bedeutete. Heute diskutieren Menschen vielleicht darüber, wie der Bildjournalismus aussieht, wenn alles zuvor Erwähnte bereits erfunden ist. Ich habe keinen ausreichenden akademischen Hintergrund, um mit irgendwelchen Erkenntnissen aufzuwarten, aber ich bin sehr gespannt, wie die Zukunft sein wird.

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Eric Tsang spricht über seine Arbeit „Language of the Unheard“.

© für alle Fotos die Fotografinnen und Fotografen
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*Hongkong
Nach dem Journalismusstudium an der Universität von Hongkong arbeitete Tsz Yeung Tsang als Fotojournalist für verschiedene Nachrichtenagenturen und internationale Medien wie Associated Press oder The Wall Street Journal. 2018 gewann er den Focus on Frontline Award der Hong Kong Press Photographer Association in der Kategorie Porträt. Nach einem weiteren Studium (Kunst) erkundet er zunehmend mediale Ausdrucksformen abseits der Fotografie. www.instagram.com/erictsang_ty/

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