N E W S L E T T E R

Erin Lefevre
Liam’s World

Medizinisch betrachtet ist Autismus eine komplexe neurologische Entwicklungsstörung. Familienangehörigen und weltweit ungefähr 67 Millionen Betroffenen hilft das nicht unbedingt dabei, die Betroffenen zu verstehen. Bei dem 19-jährigen Liam, Bruder der US-amerikanischen Fotografin Erin Lefevre, wurde in jungen Jahren eine Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert. Vor sechs Jahren begann die Fotografin, Liams Alltag zu fotografieren, um besser zu verstehen, wie er die Welt sieht. Erin Lefevre beobachtet nicht nur. Sie will wissen, was ihr Bruder denkt und fühlt, wenn sie ihn fotografiert, und lässt ihn für jedes Bild eine eigene Bildunterschrift formulieren. „Ich bin sehr stolz darauf, wer ich bin“, hält Liam handschriftlich unter einem seiner Porträts fest. Mit diesen Sätzen bestimmt er, wie er und seine Geschichte gesehen werden sollen. Die Fotoreportage verschafft Liam Öffentlichkeit und soll Menschen mit Behinderungen dazu inspirieren, ihre Lebensgeschichten mit uns zu teilen.

  • Alltag
  • Diskriminierung
  • Familie
  • Identität
  • Jugend
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Erin Lefevre spricht über ihre Arbeit „Liam‘s World“ und das Überwinden von Stereotypen zum Leben mit Autismus.

»Familien wie die unsere habe ich in den Medien früher nicht gesehen.«

Erin Lefevre
3 Fragen
1. Der Türöffner: Kannst du einen prägenden Moment in deiner Karriere als Bildjournalistin beschreiben?

Liam war am Anfang etwas zögerlich, seine Geschichte mit der Öffentlichkeit zu teilen, fasste aber Vertrauen, nachdem wir über seine Befürchtungen gesprochen hatten. Ich erinnerte ihn daran, dass dieses Projekt den Menschen helfen würde, Autismus zu verstehen, und dass der Autismus nur ein Teil seiner Persönlichkeit sei – er definiert ihn nicht vollständig. Als die Geschichte zum ersten Mal veröffentlicht wurde, wurde Liam aus allen Teilen der Welt mit Liebe und Unterstützung überschüttet. Innerhalb eines Jahres war Liam nicht mehr beschämt wegen seines Autismus, sondern akzeptierte ihn stolz. Diese prägende Erfahrung zeigt die Auswirkungen, die unsere Fotos haben und wie Fotografie etwas Positives bewirken kann.

2. Der entscheidende Moment: Wann ist dir dein Thema das erste Mal begegnet und wieso hast du dich dazu entschieden, es fotografisch zu bearbeiten?

Es war schwierig für mich, Liams Autismus und dessen Auswirkungen auf seine Person zu verstehen. Als ich anfing, Dokumentarfotografie zu studieren, wollte ich Liam fotografieren, um ihn besser zu verstehen. Die Arbeit war lange Zeit nur für mich privat, da Redakteur*innen die Arbeit ablehnen würden mit den Worten „Es sieht gar nicht so aus, als würde etwas mit ihm nicht stimmen“. Ich wollte die Stereotype rund um das Thema Autismus aufdecken. Diese Geschichten sind wichtig und verdienen, fürsorglich und einfühlsam erzählt zu werden. Die handgeschriebenen Bildunterschriften wurden einbezogen, um Liam die Autorität darüber zu geben, wie seine Geschichte erzählt wird.

3. Die Zukunft: Wie kann der visuelle Journalismus der Zukunft aussehen?

Heterogene Newsrooms. Wiederhergestelltes Vertrauen zwischen Communitys und Medien. Geschichten mit Integrität, Empathie und Mitgefühl erzählen. Institutionen benennen, die Fotograf*innen nicht unterstützen und einen Branchenelitismus aufrechterhalten. Eigene Organisationen, Stipendien, Plattformen und Veröffentlichungen starten. Auskömmliche Bezahlung für Aufträge. Die Option, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Bezahlbare medizinische Versorgung. Schutz vor Redakteur*innen, die ihre Macht missbrauchen. Menschen, die bislang nicht am Tisch sitzen durften, einen Stuhl anbieten. Die Art, wie wir Geschichten erzählen, revolutionieren. Das ist die Zukunft, die der Bildjournalismus verdient.

Beitrag zusammengestellt von Marie Kolb

© für alle Fotos die Fotografinnen und Fotografen
© für alle Videos Lumix Festival Hannover, wenn nicht anders angegeben.

*1993 in New York, USA
Erin Lefevre ist ausgebildete Fotografin und Pädagogin. Ihre Kindheit und Jugend im New Yorker Stadtteil Hell’s Kitchen weckten ihr Interesse, mittels der Fotografie Aufmerksamkeit für soziale Themen zu erzeugen, die in der US-amerikanischen Öffentlichkeit unterrepräsentiert sind. Als Kunstpädagogin arbeitet sie mit Kindern mit Behinderung in Queens und glaubt an die transformatorische Wirkung von Kunst auf junge Menschen.

www.erinlefevre.com
@erinlefevrephoto

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