N E W S L E T T E R

Sa, 20.06.
Digital Storytelling – wie Fotograf*innen im Netz ein neues Publikum erreichen

Video-Serien, Drohnenaufnahmen, Instagram Stories, interaktive Webdokus und Virtual Reality – der visuelle Journalismus ist heute so vielfältig wie noch nie. Bildjournalist*innen, die multimedial arbeiten, haben im Kampf um die Aufmerksamkeit der Internetnutzer*innen klare Vorteile. Doch was genau sind die neuesten Entwicklungen im Digital Storytelling? Mit welchen Formaten erzeugt man Tiefe? Und welche Stories kommen beim Publikum gut an?

Um darauf Antworten zu finden, werfen wir mit unserem Themenschwerpunkt zum Digital Storytelling einen Blick über den eigenen Tellerrand: Eine Netflix-Regisseurin, ein Medien-Innovationsmanager und das Gründungsteam eines Virtual-Reality-Startups erzählen uns, wie man im Netz ein neues Publikum findet und welche Technologien das größte Potential haben.

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Live Talk Jessica Dimmock im Gespräch mit Ed Kashi – was Fotograf*innen von Filmemacher*innen lernen können

Mit ihrer achtteiligen Doku-Serie «Flint Town» gab die Fotografin Jessica Dimmock 2018 ihr Regie-Debüt beim Streamingdienst Netflix. Die New Yorkerin ist das beste Beispiel dafür, dass Fotojournalist*innen, die sich mit filmischen und interaktiven Online-Formaten auseinandersetzen, häufig ein ganz neues Publikum erreichen – ohne dafür thematisch nur an der Oberfläche zu kratzen. Das Gespräch wurde moderiert von Ed Kashi, der seinerseits als Fotograf seit über 20 Jahren multimedial arbeitet.

Der Live Talk wurde gehostet von VII Photo .

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Videointerview Virtual-Reality-Startup NowHere Media

Einen ganz neuen Weg in der Vermittlung dokumentarischer Inhalte geht das Duo Gayatri Parameswaran und Felix Gaedtke von NowHere Media in Berlin. Mit Hilfe von Fotogrammetrie vermessen sie Räume und bauen damit Virtual-Reality-Erlebnisse. Im Interview auf Instagram und hier auf der Webseite geben die beiden einen spannenden Einblick in die Welt des virtuellen Erzählens.

Felix Gaedtke und Gayatri Parameswaran
Podcast Kay Meseberg, Head of Mission Innovation bei Arte

Wer sich für digitales Storytelling in Verbindung mit neuen Technologien interessiert, kommt am deutsch-französischen Fernsehsender Arte nicht vorbei. Kein anderes europäisches Medienhaus ist so experimentierfreudig, nirgendwo investiert man mehr Geld in interaktive Formate. Als oberster Innovationsmanager des Senders kümmert sich Kay Meseberg um das «Fernsehen von übermorgen», wie er selbst sagt. In unserem Podcast verrät er, was das mit Fotografie zu tun hat und wie man im digitalen Formate-Dschungel den Überblick behält.

Lumix Digital Storytelling Award Diese Formate sind angesagt

Das digitale Storytelling hat beim Lumix Festival mittlerweile Tradition: Seit zehn Jahren zeichnen wir neben den besten Fotoserien auch die herausragendsten multimedialen Arbeiten im Netz aus. Die 18 für den Lumix Digital Storytelling Award 2020 nominierten Projekte lassen sich grob in drei Kategorien einteilen.

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1. Mit fotografischem Blick aufgenomme Kurzdokus

Die im Grenzbereich zwischen Fotografie und Film entstandenen Projekte bilden unter den Digital-Stories eine Nische. Sie zeichnen sich einerseits durch den Einsatz von stehenden Bildern in einem Video aus. Michele Spataris «Rising Water» ist ein Beispiel für die Kraft, die dieses hybride Format entfalten kann. Anhand von öffentlichen Bädern, die für Obdachlose in Turin oft die einzige Möglichkeit sind, sich zu waschen, erzählt uns der Fotograf die Geschichten von Betroffenen. 

Andererseits zeigen wir in unserer Auswahl auch «reine» Filme, dessen Aufnahmen aufgrund ihrer Ästhethik – geringe Schärfentiefe, reduzierte Farben, unaufdringliche Kameraperspektiven – an Reportagefotografien erinnern. Zu sehen ist diese Herangehensweise bei Sarah Hoffmans The Rising. Die Autorin hat in Missouri und Aarhus Fotojournalismus studiert und arbeitet heute vorwiegend als Videoproduzentin. Ihre 25-minütige Dokumentation handelt von der bevorstehenden Umsiedlung eines indigenen Dorfes im US-Bundesstaat Washington, deren Bewohner durch den Anstieg des Meeresspiegels einem erhöhten Tsunami-Risiko ausgesetzt sind. 

Was Spataris und Hoffmans Arbeiten verbindet, ist der fotografische Blick, mit dem sie aufgenommen wurden. Die Autor*innen schaffen dadurch ein entschleunigtes Erzählen. Ihre Bilder prägen sich aufgrund der visuellen Qualität vermutlich deutlicher ein als jene klassischer TV-Dokumentationen. 

Einen außergewöhnlichen Weg schlägt Etinosa Yvonne mit ihrer Arbeit «It’s All in My Head» ein. Darin untersucht sie die Mechanismen, mit denen Überlebende des Terrorismus und gewaltsamer Konflikte in Nigeria ihre Traumata bewältigen. In die Köpfe ihrer Protagonisten montiert die Fotografin Videos – sinnbildlich für die Erinnerungen, die Betroffene nicht mehr loswerden. Porträtfotos und Videos verschmelzen so zu einer multimedialen Einheit, die trotz des schweren Themas von einer spielerischen Experimentierfreudigkeit zeugen. 

»Für das Erzählen einer guten Geschichte ist es unabdingbar, den Betrachter an die Hand zu nehmen – egal ob sie auf einer Bühne, einer Leinwand oder einem Bildschirm gezeigt wird.«

Kay Meseberg
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«Rising Water» von Michele Spatari

»Mit seinem klaren Fokus bricht Spatari das komplexe Thema Wohnungsnot herunter auf so etwas triviales wie eine öffentliche Dusche. Daduch wird es für uns greifbar.«

Jury-Mitglied Marie-Louise Timcke über «Rising Water»
Weitere Arbeiten
2. Text-Bild-Reportagen zum Scrollen, Klicken oder Swipen

Scroll-Reportagen haben sich als eine beliebte Form etabliert um komplexe, bildstarke Geschichten im Netz mit der nötigen Tiefe zu erzählen. Damit Leser*innen in einen «Flow» kommen, werden Text, Bilder, Videos und interaktive Grafiken miteinander kombiniert. Im Gegensatz zu Videos bestimmen die User selbst das Tempo durch das Herunterscrollen im Browserfenster. 

Ein Beispiel für für diese Form ist das bereits mehrfach ausgezeichnete Projekt «Organspende: Die letzte Gabe eines Menschen» von Patrick Junker und Dominik Stawski. Sich alles durchzulesen und anzuschauen dauert über eine Stunde, doch am Ende hat man eine Menge über das Thema gelernt und die Schicksale der Protagonisten lassen einen nicht mehr los. Für die Entscheidung, ob man selbst einen Organspendeausweis ausfüllen soll, bietet diese Arbeit eine hervorragende Orientierung.

Spielerischer erscheint das Projekt «The Homeless» von Cecilie S. Andersen und Maria Knopf Vigsnæs. Dabei ist das Thema nicht minder ernst: Weil es in Oslo zu wenig Plätze in den beiden einzigen Notunterkünften der Stadt gibt, müssen Wohnungslose jeden Abend ein Los ziehen. Zieht man eine grüne Marke, bekommt man ein Bett, zieht man eine rote, muss man die Nacht draußen verbringen. Aus dieser Beobachtung haben die Autorinnen ein interaktives Element entwickelt. Als Nutzer*in zieht man eine virtuelle Marke und bekommt je nach Farbe eine andere Story zu lesen.

»Zieht man eine grüne Marke, bekommt man ein Bett, zieht man eine rote, muss man die Nacht draußen verbringen.«

Cecilie S. Andersen und Maria Knopf Vigsnæs, «The Homeless»
Weitere Arbeiten
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3. 360°-Videos und Virtual-Reality-Projekte

Bedeutet Virtual Reality das Ende des Geschichtenerzählens, wie die Autorin Stephanie Riggs in ihrem aktuellen Buch schreibt? Diese Frage wird Digital-Journalist*innen wohl noch ein paar Jahre lang beschäftigen. Einig sind sich die Expert*innen darin, dass es bei Augmented, Mixed oder Virtual Reality darum geht, Nutzer*innen immersive Erlebnisse zu ermöglichen. Wie das gelingen kann, zeigen die drei folgenden Arbeiten. Kleiner Wermutstropfen: Um richtig einzutauchen, benötigt man ein VR-Headset. Auf unserer Webseite können wir deshalb lediglich Trailer zeigen. 

Florian Manz, Julius Schrank und Lucas Wahl haben das rheinische Braunkohlerevier mit einer selbst gebauten 360-Grad-Kameradrohne überflogen. Entstanden sind Aufnahmen, welche das Ausmaß an Eingriffen in menschliche Lebensräume durch den Braunkohleabbau deutlich machen. 

Im 360°-Dokfilm «The Wings of Mosul» begleiten Chloé Rochereuil und Hugo Clément  eine Gruppe von Gleitschirmfliegern, die nach Jahren des Krieges, des Terrorismus und der Unterdrückung durch den sogenannten Islamischen Staat in der irakischen Stadt Mossul wieder ihrer Passion nachgehen. 

Auch bei «Home After War» geht es um die Folgen des IS-Terros im Irak. Felix Gaedtke und Gayatri Parameswaran reisten nach Falludscha, wo sie mit Hilfe Tausender Fotoaufnahmen und 360°-Videos einen virtuell begehbaren Film produzierten, der auf die Bedrohung durch unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtungen (IEDs) aufmerksam macht. Diese wurden teilweise als Gegenstände des täglichen Lebens getarnt. Ein Videointerview mit Felix und Gayatri findest du weiter oben auf dieser Seite.

»Das Gefühl des Eintauchens in eine andere Welt, das Virtual Reality vermittelt, bringt etwas Neues und Kraftvolles in den Bereich des visuellen Journalismus.«

Chloé Rochereuil, «The Wings of Mosul»
Stephanie Riggs beschreibt in ihrem Buch neue Erzähltechniken für immersive Medien